(Ent-)mystifizierung der Mode
Über die Demonstration des Ichs
Vermeintliche Zugänglichkeit
Ich bin etwa 8 Jahre alt, sitze im Flugzeug von Portugal nach Deutschland und bin buchstäblich gefesselt von dem, was auf dem Bildschirm vor mir zu sehen ist. Menschen in
aufregenden Kleidern laufen vor der Kamera auf und ab. Ich hatte absolut keine Ahnung was ich dort sah und fragte
meinen Vater was das sei: „Eine Modenschau“. Mein Bruder saß neben mir und fand es furchtbar. Er nahm mir etwas von meiner Freude, konnte mir die Neugier an der Modewelt aber nicht nehmen. Damals hatte ich noch keine Ahnung,
dass genau diese Situation ein Sinnbild für meine Sicht auf die Modewelt werden würde. Ein Dualismus, der mich
ununterbrochen begleitet. Auf der einen Seite ein Bann, der
unendliche Möglichkeiten des Ausdrucks ermöglicht. Auf der anderen Seite die Realität des Kapitalismus, die mich eher erstarren lässt, als mir mögliche Chancen auf Wandel und Selbstermächtigung zu verdeutlichen. (Hierzu mehr im Abschnitt NOCH EIN PULLOVER)
Kunst und insbesondere Design wird in der heutigen Zeit für alle Gesellschaftsschichten in der westlichen Kultur
überwiegend online kommuniziert und zugänglich gemacht. Inhalte, gerade innerhalb der Modebranche, scheinen vor allem auf sozialen Plattformen wie Instagram geteilt und ausgehandelt zu werden. Dort kann ich, als Endverbraucher, meinen Lieblings Designern und ihren Labels folgen und so vermeintlich teil haben. — Teil an einer Welt die für mich, auf den ersten Blick, „normal“ zu sein scheint. Sie ist so perfekt
inszeniert, dass ich mich mit der Komplexität der Inszenierung nicht weiter auseinandersetze, geschweige denn sie überhaupt erkennen kann und hinterfrage. Meine
Wahrnehmung wird von überwiegend fachkundigen
Personen gesteuert, die einflussreiche Positionen in der Branche innehaben und an den Stellschrauben drehen.
Geprägt wird nicht nur mein Blick, sondern der unserer
Gesellschaft. Die Popkultur unserer Ära wird hier definiert. Neue technische Entwicklungen revolutionieren unsere
visuellen Seh-Gewohnheiten und verändern unsere
oberflächliche Wahrnehmung, zwangsläufig aber nicht die Inhalte, mit denen wir uns befassen.
Ein Wandel, gerade in meiner Generation, ist wahrnehmbar. Er ist jedoch langsam, noch immer werden die seit langem geltenden Stereotypen über Status, Gender, Coolness und Schönheit reproduziert. Durchinszenierte Welten, sinnliche Reize und stereotypisierte Aufmachungen verfolgen uns. Es geht um die visuelle Erschaffung eines Traums, der mich als Konsumenten emotional anspricht und mich an die Marke bindet.
Was mich an der Modewelt fasziniert, ist die Möglichkeit, Kleidung eine Bedeutung geben zu können. Durch die
gezielte Anwendung von Mechanismen und Strategien wird eine Illusion erschaffen, ich nenne dies „Mystik“, durch die Kleidung zu „Mode“ wird und ohne die sie nicht auskommt.
(In den folgenden Abschnitten DAS MOMENT DER
MYSTIK und DIE ENT-MYSTIFIZIERUNG gehe ich genauer
darauf ein). Ursprünglich meint „Mystik“ direkte und persönliche Erfahrungen des Göttlichen oder des Geheimnisvollen. Eine spirituelle Tradition, die sich auf das Erleben von
Einheit, Transzendenz und Erleuchtung konzentriert. In
einigen Fällen gibt es auch nicht-religiöse Formen der
Mystik, die sich auf die Erforschung der menschlichen
Erfahrung und des menschlichen Bewusstseins
konzentrieren.1
Unter dem Begriff „Mode“ verstehe ich all das, was eine
Marke ausstrahlt und kommuniziert. Sie bildet eine Identifikationsfläche für mich als Endkonsumenten. Ein Kleidungsstück erhält üblicherweise den Status von anerkannter Mode, wenn es von einer großen Anzahl von Menschen zu
einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort als stilvoll und aktuell betrachtet wird. Mode ist also ein
soziales Phänomen, das durch kulturelle, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen beeinflusst wird. Mode kann von Designern, Einzelhändlern, Prominenten, Influencern, Fotografen und anderen Personen definiert werden, die als Trendsetter oder Meinungsmacher angesehen werden. Die
Modeindustrie, einschließlich Modezeitschriften, Modenschauen, Einzelhandelsgeschäften und globalisierten
Warenhausketten, trägt auch dazu bei, welche Kleidungsstücke als „in Mode“ angesehen werden. Es ist hingegen auch wichtig zu bedenken, dass Mode dennoch ein subjektiver Begriff ist und dass nicht alle Menschen die gleichen
Kleidungsstücke als modisch betrachten. Was als Mode
angesehen wird, variiert von Land zu Land und von
Generation zu Generation.
Im Laufe meines Textes gehe ich hierzu immer wieder
ausführlicher ein und werde auf verschiedene Mechanismen und Strategien eingehen, die das „große Ganze“ der Modeindustrie bilden. (In dem Teil ALLES BERECHNET
werde ich gesammelt auf einige Strategien eingehen, die
Modeakteure anwenden). Mein Anliegen besteht darin,
einen möglichst großen Teil dieser Strategien aufzuführen, die sich gegenseitig beeinflussen und Trends schaffen. Und um so darlegen zu können, wie die „Mystifizierung“ und der Markt rund um „Kleidung“ funktioniert. Und warum wir (oder
zumindest ein großer Teil unser westlich geprägten
Gesellschaft) immer wieder den Wunsch verspüren ein Teil der Modewelt zu werden.
Ich behandle in diesem Text meine persönliche Auseinandersetzung mit Aspekten der „Mode“, die mich aktuell
beschäftigen und die ich in meiner Masterpräsentation
behandeln werde. Mein Blick auf diese Welt ist als in
Deutschland lebender Mensch wesentlich westlich geprägt. Die westliche Welt hat eine führende Rolle in der internationalen Modeindustrie. Viele bekannte Modemarken und
Designer stammen aus westlichen Ländern. Sie haben
historisch, politisch und kulturelle Wurzeln und sind miteinander verbunden. Es ist eine gemeinsame Designästhetik entstanden, die wiederum überwiegend von Strömungen der westlichen Kultur, ihrer Geschichte und ihren Trends
beeinflusst wird. Dazu beigetragen haben sicherlich auch Luxuskonzerne wie „LVMH“ (betreibt über 70 Marken in
verschiedenen Bereichen wie Mode, Schmuck, Uhren,
Parfüm und Kosmetik)2 oder „Kering“, (betreibt acht Modehäuser und andere Luxusmarken, die in verschiedenen
Bereichen tätig sind)3 zu ihnen gehört also ein Großteil der bekanntesten Modemarken.
Ich habe mich entschieden, in meinem Text keine gendergerechte Sprache zu verwenden, um den bereits erwähnten Dualismus innerhalb der Mode deutlicher zu machen.
Gendergerechte Sprache zeichnet ein Bild, das leider (noch) nicht der realen gesellschaftlichen Lebenswelt entspricht. Da ich jedoch in meiner Arbeit genau diese Lebenswelt
darstellen möchte, nutze ich das generische Maskulinum als weitere Möglichkeit, sie abzubilden. Gleichzeitig soll diese Entscheidung aufzeigen, dass wir noch nicht den
idealisierten und perfekten Traum erreicht haben, den die Modewelt vermittelt und verkauft — eine Illusion?
Das Moment der Mystik
Mode funktioniert heutzutage nicht mehr bloß über
Kleidung. Damit sich Endverbraucher angesprochen und im besten Fall mit einer Marke verbunden fühlen, braucht es mehr. Marken kommunizieren nach außen ein Bild, das mit den Werten und dem Stilempfinden der Konsumenten
übereinstimmt. Sie erschaffen eine immersive Welt, in der
alles zueinander passt. Eine Art Gesamtkunstwerk aller
Sinne, eine Inszenierung in der die Endkonsumenten zum Akteur werden. Damit dies erfolgreich funktionieren kann, benötigt es Strategien, mit der nach Außen eine hoher
Wiedererkennungswert erzeugt werden kann. Methoden werden entwickelt, anhand der die Marke besonders
individuell wirkt. Die Kleidung rückt dabei vornehmlich in den Hintergrund, sie gilt als ein Mittel zum Zweck, quasi als
Möglichkeit durch den ich in eine mir sonst verschlossene Welt eintreten kann und somit ein Teil der Modewelt werde. Kleidungsstücke sind also mit Erwartungshaltungen,
Werten, Prestige und Status aufgeladen. Sie sind politisch, denn die Dinge die wir tragen und Konsumieren geben
Aufschlüsse über Marken und Unternehmensphilosophien.
Somit sagen sie auch etwas darüber aus, wie unsere
eigene ethische Wertelandkarte aufgestellt ist. Damit Mode
dem gerecht werden kann reicht es nicht, sie bloß
abzubilden. Die Modefotografie muss mehr leisten: Sie wird dafür eingesetzt, die Geschichte des Modehauses zu
erzählen und für die Konsumenten eine heute relevante
Inszenierung zu schaffen. Ähnlich wie die Kleidung werden auch die Bilder, mit denen eine Marke für sich wirbt, zu Stellvertretern der versprochenen Welt. Es sind Bilder von Mode, die in aufwendig inszenierten Shootings erzeugt werden. Es geht darum die Mode auf die bestmöglichste Weise zu
präsentieren und sie mit der Markenbotschaft zu koppeln. Damit dies gelingt, wird ein Team an Profis beauftragt.
Vergessen und unwichtig, dass sich Mode im Alltag anders verhält als am Set. Wir hinterlassen auf der Kleidung sichtbare Spuren wie Schweiß, Make-up, Knitterfalten, Löcher, Flecken, Verfärbungen, Haare, etc. Auch die Kleidung selbst hinterlässt sensorische Erfahrung an uns. Im Alltag haben wir kein Team um uns herum, das überprüft, ob alles perfekt sitzt und der Gesamtlook stimmt. Am Set geht es nicht um eine authentische Darstellung. Es geht darum, einen visuellen Traum zu erschaffen, der zum Kauf anregen soll. Durch die Produktion einer vermeintlich perfekten Aufnahme
werden die Emotionen der Endkonsumenten geweckt.
Die Modefotografie musste sich immer wieder neu
erfinden, um in der sich ständig verändernden Mode-
industrie erfolgreich sein zu können. Sie wurde in nahezu allen Genres der Fotografie behandelt und kommerzialisiert. Das gezeigte Objekt rückte dabei vornehmlich in den
Hintergrund. Wie viel Materialität ist noch notwendig, um Mode zeigen zu können beziehungsweise zu wollen? Wie viel von allem? Diese Fragen scheint die Fotografie immer wieder neu zu definieren.
Der visuelle Traum wird so oder so ähnlich zunächst durch ein Konzept des Art Directors in Übereinstimmung mit der Vision des Modedesigners entwickelt. Dies wird mit dem Casting Director besprochen, welcher für die Auswahl der Models verantwortlich ist. Set Designer entwickeln zeitgleich die visuelle Gestaltung eines szenischen Raumes, der das Konzept unterstützt. Am Produktionstag werden die
Models von Hair & Make-up Artists für das Shooting
zurechtgemacht. Die Stylisten stellen die Looks zusammen. Vor dem Produktionstag machen sie mit den Models ein
Fitting um zu überprüfen, ob die Looks und Größen stimmen. Am Set sind sie während des Shootings dafür zuständig, dass die Objekte richtig sitzen und keine Falten, Fussel,
Haare oder ähnliches zu sehen sind. Der Fotograf ist für die
Einstellung des Lichts verantwortlich und fotografiert die
Produkte am Model. Die Bilder werden anschließend in der
Post-Production vom Bildbearbeiter angeglichen und
editieret. Im letzten Schritt entwickelt der Grafikdesigner
eine Werbekampagne, die in Anzeigen geschaltet wird. In
fast allen Schritten werden Assistenten eingesetzt, die bei
der Umsetzung helfen. Es wird nichts dem Zufall überlassen — außer das Konzept sieht es vor. Alle beteiligten Personen arbeiten daran, dass das Objekt auf die vermeintlich „beste Weise“ dargestellt wird: So entsteht das Moment der Mystik.
„Mystik“ ist für mich der Inbegriff von perfekter Inszenierung, ohne den die „Mode“ nicht auskommt und in unser schnelllebigen Zeit vermutlich nicht mehr funktionieren würde. Unter der Oberfläche verbergen sich sensible und durchaus komplexe Zusammenhänge. Den Begriff Mode verstehe ich hierbei als all das, was die Modebranche durch Kleidung und deren Inszenierung auszustrahlen versucht. Es geht also nicht mehr nur um das bloße Bedecken des Körpers oder dem Schützen vor Witterungen.
Claudia C. Ebner beschreibt dies in ihrem Buch „Kleidung
Verändert“ als Dualismus und Spannungsfeld. Sie
beschreibt einerseits das es darum geht, wie sich der Mensch in seiner Kleidung (der zweiten Haut) fühlt, zeigt und Wirkung erzielt. Auf der anderen Seite gibt es gesellschaftliche und medial erzeugte Regeln, die definiert wie das Umfeld auf unseren bekleideten Körper reagiert.
Kleidung dient in diesem Sinne als Mittel, um gesellschaftlichen Normen zu entsprechen, oder sich ihnen entgegen zu stellen. Kleidung sagt also immer etwas über den Träger aus. Anhand dessen was wir sehen, kategorisieren wir das Gegenüber. Der Konsum von Kleidung dient zu einem
großen Teil unserer Identitätsfindung. Wir konsumieren das, von dem wir überzeugt sind, uns angemessen repräsentieren zu können. Was immer wir anziehen, wird für das Gegenüber zu einem Teil von uns und verrät ob wir
Gesellschaftlich angepasst sind oder Normen ablehnen neu definieren. Mode ist Teil unseres Lebens, unserer
gesellschaftlichen Ordnung oder Unordnung, unseres
individuellen Seins und eben nicht nur eine unerreichbare Schönheit auf dem Laufsteg oder die der Modefotografie. Es geht um Akzeptanz in unserer Gesellschaft: Was ist zeitgemäß und wird von der signifikanten Menge akzeptiert?4
Ebner schreibt ebenfalls in ihrem Buch, dass die Einladung zum Konsumieren sich nie an alle Menschen richtet.
Beschäftigten wir uns mit Fragen nach unterschiedlicher Herkunft und Ethnizität sowie gesellschaftlichen Zuordnungen, weichten wir den Problemen sozialer Herkunft und Armut gezielt aus. Somit wird das Gefühl erzeugt, dass
„wir alle“ konsumieren können. Überwiegend ungeachtet dessen, was das Konsumgut für einen ursprünglichen
vorgesehenen Zweck hat, geht es viel mehr um die oben
bereits erläuterte Frage, was das Produkt an Be- und
Deutungsprozessen durchläuft und ausstrahlen soll.5
Bereits im Prozess der Herstellung eines Produktes
werden wichtige Entscheidungen getroffen. Um die
Wichtigkeit der Repräsentation von Mode begreifen zu
können, müssen wir uns zunächst den besagten Prozess genauer anschauen, bis ein Produkt beim Endkonsumenten
ankommt. Der Trend gibt das Design vor, er wird heutzutage zunehmend in sozialen Medien über unseren Handybildschirm ausgehandelt. Dennoch bestimmen Merchandizer und Buyer in einer globalisierten Welt und wirtschaftlichen Abhängigkeiten — zum Gewinn verdammt —, was produziert und dem Konsumenten zum Kauf angeboten wird. Sie entscheiden zum großen Teil wie Kleidung aussehen muss, damit sie hergestellt wird. Auch Stylisten tragen ihren Teil dazu bei, welche Kleidungsstücke besonders „gehyped“ werden. 6 Fast alle Bekleidungsunternehmen haben ihren Markt global ausgerichtet. Verschiedene Kulturen bzw.
Märkte haben unterschiedliche Bedürfnisse, auf die
Modehäuser eingehen müssen, wenn sie wirtschaftlich
erfolgreich agieren wollen. Die Aufgabe eines Designers ist
es also, Artefakte zu entwerfen, die Begehrlichkeiten
wecken und sich leicht verkaufen lassen. Damit dies gelingt, muss der Designer mit seinen Entwürfen diese Mystik
erschaffen können. Er muss also nicht nur Funktionstüchtigkeit, sondern auch Bedeutung herstellen können. Das heißt: Design schafft Bedeutung durch die Encodierung der Artefakte mit symbolischer Bedeutung.7 Anders gesagt, durch die „Mystifizierung“ wird ein Kleidungsstück zu „Mode“.
Die soziale Lüge
In dem Dokumentarfilm „Stutz“ von Jonah Hill spricht der Psychiater Phil Stutz darüber, dass Träumerein unseren Geist erweitern und deswegen wichtig für uns sind.8
Unerfüllte Sehnsüchte und Wunsche können mit starken Emotionen verbunden sind. „Mode“ benutzt diese Sehnsüchten und Träumen, diese werden dafür eingesetzt, um uns an die Möglichkeit einer besseren Welt glauben zu
lassen — durch Konsum.
Alec Leach beschreibt dieses Phänomen in seinem Buch „The World Is On Fire But We‘re Still Buying Shoes“ wie folgt: Mode ist eine Art der Selbstdefinition und -verbesserung, die auf Optimismus und der Hoffnung auf eine bessere
Zukunft basiert. Der Kauf von Kleidung kann uns das Gefühl geben, dass wir in der Lage sind, unsere Realität zu verbessern und unsere Ängste und Sorgen zu vergessen. Die Art und Weise, wie die Mode dargestellt wird, gibt uns das
Gefühl, dass wir uns verändern und in naher Zukunft durch den Kauf von ihr optimistischer sein können, um eine
bessere Version von uns selbst zu werden. Mode gibt uns die Chance, neue Zukunftsvisionen für uns selbst zu
entwerfen, in denen unsere gegenwärtigen Ängste und
Belastungen verschwinden. Wir tragen diesen Optimismus mit uns, wenn wir shoppen — oder einfach nur gedankenlos durch unsere sozialen Medien scrollen. Die Models, die uns auf unseren Smartphones anstarren, sehen nie gestresst, traurig oder ängstlich aus, weil wir uns nicht damit identifizieren wollen würden. Sie schauen selbstbewusst, sexy,
unbesorgt oder rebellisch aus. Aber wirken nie gestresst, oder als müssten sie viele E-Mails abarbeiten. Wir ertrinken in Mails, die unseren Posteingang fluten, haben Angst vor der Zukunft und bereuen unter Umständen unsere Dinge aus unser Vergangenheit, aber die Menschen in coolen
neuen Kleidern sehen aus, als hätten sie diese Probleme oder Gedanken nicht. Niemand stellt sich vor, dass schlechte Dinge passieren, wenn wir von Margiela träumen.9
In einem Interview mit dem Theologen Robert Covolo
untermauert Leach dieses Phänomen. Dort argumentiert
Covolo, dass Mode aus einem impliziten Glaubensbekenntnis besteht. Das Interesse an Mode ist darauf zurückzuführen, dass wir Hoffnung für unseren Körper haben, Hoffnung für das Neue und uns von der Idee fasziniert fühlen, dass wir eines Tages glorreich und schön sein könnten. Mode spielt mit dieser Hoffnung und suggeriert uns, dass wir uns auf eine Weise neu definieren können, die uns neue
Möglichkeiten in unserem Leben und unserer Geschichte eröffnet.10 Es scheint so, dass unserer Gesellschaft bereit ist, an diesem Phänomen festzuhalten. Wir nehmen in Kauf, dass uns die Modebranche mit einfachen mitteln verführt und hinterfragen diese nicht. Wir sind der visuellen Erschaffung eines Traums, der zum Kauf des Objekts anregen soll,
unterlegen. Dass die Manipulation zur Perfektion nicht nur in
unseren Träumen steckt sondern auch bereits am Set durch Einsatz von Klammern und Stecknadeln, oder der Bildbearbeitung Einzug erhalten hat, erscheint mir hier als logische Konsequenz. Es ist bekannt, dass Deutschland zu den
größten E-Commerce-Märkten in Europa gehört und die Modeindustrie einen bedeutenden Anteil am Online-Handel hat. Laut einer Statistik von Statista betrug der Online-
Umsatz von Bekleidung und Schuhen in Deutschland im Jahr 2020 rund 22,3 Milliarden Euro. Dies entspricht einem
Anstieg von 14,8% gegenüber dem Vorjahr.12 Dies zeigt, dass der E-Commerce-Markt für die Modebranche in Deutschland immer noch stark wächst.
Leach beschreibt in seinem Buch außerdem die Relevanz von reichen und berühmten Personen in der Modeindustrie.
Genutzt wird die Berühmtheit und der Status von
Prominenten, um Produkte zu verkaufen. Die Idee ist immer
dieselbe: Wir wollen das tragen, was unsere Idole tragen,
um von anderen anerkannt und bewundert zu werden. Es geht in diesem Zusammenhang um den Status und das Image, die mit bestimmten Marken und Kleidungsstücken verbunden werden. Leach weist darauf hin, dass dieser
Mechanismus in der gesamten Statuspyramide der
Modebranche zu finden ist — von den Kardashians, Rappern und Condé Nast-Redakteuren bis hin zu lokalen Mikro- oder
Nano-Influencern. Rund um die Uhr wir über die Outfits von Prominenten berichtet. Obwohl sie dabei oft die gleichen
alltäglichen Dinge tun, wie wir, beispielsweise „Prominente Person trägt Marke X beim Kaffeetrinken“. Es geht darum, dass wir uns mit dem Image und dem Status identifizieren, den diese Prominenten repräsentieren. Wir erhoffen uns, durch das Tragen ihrer Kleidung ebenfalls ein Teil von dem zu werden, was sie ausstrahlen.13 Wir zeigen der Welt, dass wir wissen, was im Trend liegt und dass wir in der Lage sind, uns teure Designerkleidung leisten zu können. Unsere
Kleidung ist also ein Ausdruck unserer sozialen Identität.
Außenwahrnehmung ist alles
Die Kleidung und Accessoires, die Menschen tragen,
können uns einen Einblick in ihren Alltag und ihre Kultur
geben. Mode ist jedoch mehr als nur Kleidung — sie umfasst auch Schmuck, Accessoires und Styling. Modetrends
entstehen durch das Zusammenspiel von gesellschaftlicher Akzeptanz und Veränderung. Auf subtile Weise spiegelt die Mode das aktuelle Weltbild mit seinen Ängsten, Freuden und Entwicklungen wider — einschließlich technologischer,
politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen innerhalb
einer Gesellschaft.
Wir haben uns im Laufe der Evolution aus Gruppen von
Jägern und Sammlern hin zu Gesellschaften mit komplexen sozialen Systemen entwickelt, in dem das individuelle
Erscheinungsbild eine wichtige Rolle spielt. Durch die
visuelle Demonstration des Ichs können wir als Teil der
Gesellschaft anerkannt werden. Die logische Konsequenz ist, dass der Kauf von Produkten ein stark stimulierendes
Erlebnis für uns sein kann. Es gibt uns ein Gefühl der
Aufregung, wenn wir am Smartphone auf den Kaufknopf drückt und wenig später ein weiteres neues Paket zu
öffnen ist. Doch nicht nur das Einkaufen selbst wirkt stimulierend. Auch die Möglichkeit, neue Outfits auf Instagram zu
posten und die Likes und Direktnachrichten zu sehen, kann ein Rauschgefühl auslösen.14
Taylore Scarabelli, stellt in ihrem Artikel „Styling for
Social Media“ aus dem „Viscose Journal 1“ sogar die These auf, dass der Einfluss von sozialen Medien die Bedeutung von gutem Geschmack im Bereich der Mode verändert hat. Nach Scarabelli liegt der Fokus mittlerweile darauf, wie
Kleidung auf dem kleinen Smartphone Bildschirm aussieht, was wiederum zu einer Anpassung von Mode-Editoren an das aktuelle Mediennetzwerk führt. Besonders beliebt auf
Instagram sind Accessoires und Bilder, die auffällig sind und
Aufmerksamkeit erregen. Es geht darum, die Trends der
breiten Masse aufgreifen und die Algorithmen zu
beeinflussen. Influencer setzen den Trend und geben vor,
was angesagt ist und Modehäuser richten ihre Kleidung
zunehmend nach Datenanalyse und Verbrauchertrends aus. Stylisten stehen unter großem Druck, virale Inhalte zu
produzieren und haben oftmals den Eindruck, dass ihre Kreativität in diesem Umfeld nicht ausreicht, um
wahrgenommen zu werden. Die aktuell erfolgreichsten
Modebilder sind „cringecore“: Bilder, die absichtlich
provokant und gleichzeitig komisch sind, um die Aufmerksamkeit der Betrachter auf sich zu ziehen. Dieser Trend
ist nicht neu, aber er hat durch soziale Medien weiteren
Auftrieb erhalten. In der Vergangenheit haben unabhängige
Magazine wie „Purple Fashion“ oder „i-D“ sowie Mainstream-Publikationen wie die italienische „Vogue“ mit provokanten Editorials die Grenzen des Mainstream-Geschmacks
getestet, doch heute ist der Druck, möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen, noch gewachsen. Dabei geht es
weniger um Semiotik, sondern mehr um Themen, die durch „cringecore“-Bilder angesprochen werden sollen.15
Soziale Medien haben nicht nur den Umgang von Designern innerhalb des Designprozesses verändert und die Art, wie wir Mode wahrnehmen, sondern auch unseren Umgang mit ihr und unser Konsumverhalten. Die soziale Mediensphäre ist eine beschleunigende Geschmacksapparatur: Sie
verbreitet wünschenswerte Stile und Persönlichkeiten schneller als je zuvor. Auf Instagram ist jeder ein Mode-
Redakteur. Aber anstatt unseren eigenen Geschmack zu kreieren, replizieren wir eher die Geschmäcker anderer im Sinne von „Wer hat es am besten getragen?“. Dies ist nicht nur eine Reaktion auf die unterschwellige Botschaft, die auftaucht, wenn wir uns an unsere personalisierten Feeds klammern, sondern auch das Ergebnis von Datenanalyse: Wir posten alle, von dem wir hoffen, dass es uns die meisten Likes und Follower bringt. Diese Entwicklung beinhaltet aber auch eine Demokratisierung des Marktes. Konsumenten sind nicht länger teuren Trends ausgeliefert, die von
Moderedakteuren verbreitet werden und unser Stilempfinden wird nicht mehr nur von Unternehmen unterstützten Gatekeepern diktiert.16 Die globale Demonstration des Ichs ist in unserem digitalen Zeitalter in den Mittelpunkt unseres Lebens gerückt. Noch nie waren wir so sichtbar und
vernetzt wie heutzutage. Laut einer Umfrage von
Launchmetrics unter Modemarken im Jahr 2020 beträgt die durchschnittliche Anzahl von Influencer-Kooperationen pro Marke etwa 26 pro Jahr. Diese Zahl variiert jedoch je nach Größe und Bekanntheit der Marke.17 Laut einer
Schätzung vom Influencer Marketing Hub aus dem Jahr 2020 geht hervor, dass es weltweit etwa 500.000 Influencer im Bereich Mode gibt. Diese Schätzung basiert jedoch auf einer Analyse von Influencern auf Instagram und TikTok und ist daher nicht repräsentativ für alle Influencer-Plattformen und -Regionen. Und nicht unbedingt repräsentativ für die gesamte Influencer-Industrie. Hinzu kommt, dass sich die Anzahl der aktiven Influencer ständig ändern kann.18
Die ständige Selbstdarstellung hat einen Stellenwert in
unserem Leben bekommen, die uns dazu ermächtigt
ständig und überall mit unserem Smartphone den Zeitgeist mitzubestimmen. Wir sind in der Lage, unsere Geschichte über Sexualität, Gender und Status selbst bestimmen zu können und fungieren daher selber in den Rollen von
Fotografen, Editoren und Stylisten.
Jepp Ugelvig, der Herausgeber des „Viscose Journal“
beschreibt in dem Artikel „The bastard art of styling“ der
ersten Ausgabe des Magazins „Styling“ als ein Werkzeug der Überredung und Kommunikation durch Kombination von
Signifikanten und ein dynamisches Mittel zur Vermarktung und zum Verkauf von Waren und Dienstleistungen. Der
Begriff „Style“ steht für flüchtige und vermeintlich dauerhafte Veränderlichkeit in der Modewelt und ist untrennbar mit dem Konzept der gesellschaftlichen Klassen verknüpft.
Stylisten schaffen Stil in der Modebranche. Der moderne
Stylist ist ein Vermittler, der Beziehungen zwischen
Menschen und Dingen schafft, um Geschichten zu erzählen und arbeitet mit verschiedenen Fachleuten zusammen, um den gewünschten Stil zu kreieren. So kann Styling auch als kritische Strategie für marginalisierte Gruppen ethnische Minderheiten eingesetzt werden.19
Warum ziehen wir uns an? Letztlich geht es gar nicht
wirklich um die Farben, die Silhouetten oder Texturen. Es geht um das Leben, das wir in Kleidern führen, die Dinge, die wir darin erleben. Doch wir sind nicht davon befreit, dass unsere Outfits in der Öffentlichkeit als Modische Botschaften verstanden und gelesen werden. Insofern ist Mode
demokratisch. Jeder nimmt an diesem Spiel der Farben und
Formen teil, ob wir nun wollen oder nicht.
Nichtintentionale Kommunikation (jede Lebensäußerung eines Menschen kann von einem anderen kommunikativ
interpretiert werden) zeichnet sich dadurch aus, das sie häufig der Wahrheit sehr nahe kommt. Wer wider Willen Aussagen macht, will nicht lügen. Und wenn wir lügen,
verraten wir uns. Wer sich dem Diskurs der Mode verweigert, muss diese Absage modisch formulieren und ist doch langst noch nicht davor geschützt, von ihr gedemütigt zu werden. 20
Hier kommt die Strategie der „Coolness“ ins Spiel. Sie ist der verführerische Hauch von Kultiviertheit. Beim Coolen ist das instinktnahe Befolgen von Regeln, soweit irgend möglich, selbstgesteuert. Wenn das Bedürfnis nach grenzenloser
Freiheit jedoch die Selbstbeherrschung in frage stellt, wird diesem Wunsch oft mit Drogen, Sex, Ekstase und Feiern nachgegeben, ohne Rücksicht auf mögliche negative
Konsequenzen. So beschreibt es Ulf Poschardt in seinem Buch „Anpassen“.21 Auch das Buch „Coolness — Zur Ästhetik einer kulturellen Strategie und Attitüde“ von Annette Geiger, Gerald Schröder und Änne Söll (Hg.) behandelt das Phänomen der Coolness als eine der wichtigsten Kulturtechniken der Moderne. Sie kann als individuelle Verhaltensstrategie
betrachtet werden, die über ästhetische Aspekte, also
sinnlich wahrnehmbare Reize, funktioniert und zielt darauf ab, Emotionen zu kontrollieren um Macht und Stärke zu i
nszenieren. Hierbei geht es jedoch stets um die Demonstration des Ichs. Das bedeutet, dass die visuellen und symbolischen Elemente wie Körperhaltung, Mode, Habitus, Attitüde und Stil sowie andere kulturelle Medien wie Musik, Literatur, Kunst und Film eine wichtige Rolle spielen. Obwohl Coolness eine individualistische Ausrichtung hat, kann sie auch eine oppositionelle Haltung gegenüber bestimmten Formen der Macht ausdrücken und somit eine politische Bedeutung haben. Oft wird Coolness als Reaktion auf soziale Ungleichheit eingesetzt und kann für gesellschaftlich unterdrückte Randgruppen eine Gemeinschaft stiftende Funktion haben und ihre soziale Stellung verbessern.22
Die Strategie des „Coolen“ ermöglicht es uns aktiv die
Demonstration des Ichs zu formulieren und über das
Einsetzen von kulturellen Codes am Modegeschehen
teilzunehmen. Dabei spielt die Auswahl und Inszenierung bestimmter Codes eine wichtige Rolle, um als Teil der
gewünschten Gruppe wahrgenommen werden zu können. Somit kann die Strategie des „Coolen“ als Mittel der Selbstinszenierung und sozialen Interaktion dienen, auch wenn wir nur über begrenzte finanzielle Mittel verfügen.
„Wenn der wichtigste Grund, warum Sie sich so anziehen, wie Sie sich anziehen, der ist, dass es Ihnen selbst
Freude macht, dann wird darin auch eine Authentizität sichtbar werden, eine Übereinstimmung mit Ihrer Persönlichkeit und Ihrem Charakter. Es steckt dann eine Aufrichtigkeit in dem, was Sie anhaben, weil es Ihnen selbst gefällt. Sie hoffen nicht, darin anderen Leuten zu gefallen.“23
Alles berechnet
Es gibt eine Vielzahl verschiedener Methoden und
Strategien, dessen geschicktes Einsätzen es Modemarken
ermöglicht, sich auf dem Internationalen Markt zu
behaupten.
Mit dem sogenannten „Emotional Branding“ sollen bei
Kunden Sehnsüchte, Wünsche und Träume geweckt und das Ego angesprochen werden. Auf diese Weise wird
versucht, die Käufer über eine direkte emotionale Ebene
anzusprechen und somit an eine Marke zu binden.
Subtile modetechnische Details verlieren an Bedeutung, werden übersehen — das Gefühl, das eine Marke bei einem hinterlässt, vergessen wir hingegen nicht. Im Gegensatz zu Informationen über Produkteigenschaften und Fakten ist die emotionale Ansprache eine eingängliche Art, die sich der Psyche der Kunden bedient und beeinflusst, wie sie eine Marke bewerten. Daher scheint das Emotional Branding eine geeignete Strategie zu sein, um eine starke Markenbindung zu erzeugen. Über die so gewonnene Loyalität der Kunden können wiederumhöhere Umsätze erzielt werden.24
Die gesteigerte Kaufabsicht nach dem Schauen einer
Fernsehwerbung ist beispielsweise dreimal so hoch, wenn diese die potenziellen Endverbraucher emotional angesprochen hat. Insgesamt sind Kunden, die emotional an eine
Marke gebunden werden konnten 52% wertvoller als
andere. Sie sind vermutlich die profitabelste Käuferschicht.25
Mode ist traditionell oft mit Erfahrungen, symbolischen
Werten oderhedonistischen Eigenschaften verknüpft. Daher erscheint es gerade in der Modeindustrie sinnvoll, Emotional Branding zu nutzen und so mit den Modekonsumenten zu kommunizieren. Zudem werden positive Kauferlebnisse
kreiert, indem Marken suggerieren, soziale Verantwortung zu übernehmen und sich für Wohltätige Zwecke oder Nachhaltigkeit zu engagieren. Durch eine Spende, die der
Konsument bei Kauf einer Ware auslösen kann, wird an das soziale Gewissen der Käufer appelliert. So versuchen die Marken auch das Vertrauen und die Loyalität der Kunden zu
gewinnen. Diesen Trend bezeichnen wir als „warm glow“: Konsumenten helfen anderen Menschen. Die positive
Aktion durch das Handeln kann das Gefühl der eigenen
Kompetenz bestärken, das nennen wir Pro-Soziales Geldausgeben. Dieser und weitere „Marketplace trends“, die die Konsumenten direkt ansprechen, sollen das Kaufverhalten beeinflussen. So wird durch sogenannte „consumer
experiences“ beeinflusst, wie Käufer eine Marke einschätzen und beurteilen und ob die Marke ähnliche Werte wie die eigenen ausstrahlt. Die Erlebnisse werden nicht mehr nur über Produktspezifikationen wie gute Qualität oder
Serviceleistungen erzielt, sondern auch über die Atmosphäre im Geschäft und Online oder einem professionellem
Kundenservice. Konsumenten sind besonders dann mit
einem Unternehmen verbunden, wenn dieses das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung in ihnen auslöst: „Authentic self“, der Wechsel zwischen „wer bin ich jetzt“ und „wer möchte
ich sein“ — eine gemeinsame Weiterentwicklung. Dies wird durch die Kommunikation der Marken bestärkt, mit ihnen werden zwischenmenschliche Beziehungen aufgebaut: Wörter wie „Ihnen“ oder „mir“ werden durch „uns“ oder „wir“ ersetzt. Angesprochen werden Kunden nicht mehr nur über personalisierte Werbung, ein Produkt oder eine Dienstleistung, sondern über Sinneserfahrungen, die über das
Denken, Fühlen, Spüren, und Handeln ausgelöst werden. Das Markenerlebnis ist durch das sogenannte „Omni-Channel-Shopping“ in Geschäften, Webseiten, Social-Media-
Plattformen und Apps in Echtzeit und jederzeit abrufbar und präsent. Mit den sozialen Medien werden durch Interaktionen zwischen Verbrauchern und Marken langfristige Beziehungen aufgebaut und verstärkt. Die Unternehmen setzen auf eine scheinbar demokratisierte Kommunikation, in der die Kunden eine Rolle spielen und die Geschichte der Marke mitbestimmen können: „Co-creation“. Es entsteht eine gemeinsame Wertschöpfung, die auf Identifikation mit der Markenbotschaft setzt und Direkt-Käufe in sozialen
Medien generiert — „See now buy now“. Und so wiederum von Verbrauchern in Blogs, Videos, Podcasts, Kurznachrichten oder in anderen sozialen Medien geteilt wird. Das
erzeugte „Content Marketing“, wirkt sich positiv auf den Umsatz eines Unternehmens aus. Durch „gezielte Werbung“ können Marken ihre Produkte an spezifische Zielgruppen richten und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass
potenzielle Kunden das Produkt kaufen.26
Viele Streetwear-Marken veröffentlichen ihre Produkte zu von ihnen bestimmten Zeitpunkten, um eine höhere Nachfrage zu erzeugen. Diese Taktik kann dazu führen, dass Kunden sich beeilen, um die neuesten Produkte zu bekommen, bevor sie ausverkauft sind. Im Allgemeinen hat in der Modebranche die „gezielte Produktveröffentlichung“ dazu geführt, dass Marken saisonale Kollektionen veröffentlichen und ihre Produkte in regelmäßigen Abständen aktualisieren.27
Streetwear-Marken produzieren ihre Kleidung in begrenzten Stückzahlen. „Limitierte Auflagen“ erhöhen beim Käufer den druck schnell handeln und die Kleidungsstücke kaufen zu müssen. Diese Taktik hat dazu geführt, dass Marken wie
Supreme und Yeezy schnell ausverkauft sind und oft zu
hohen Preisen auf dem Sekundärmarkt verkauft werden.28
Die „Hype-Kultur“ in der Modebranche führt dazu, dass eine große Menge an Medienaufmerksamkeit und Diskussionen in sozialen Medien generiert wird, dies wiederum verstärkt das Interesse der Kunden und trägt dazu bei, dass Marken im Gespräch bleiben.29 Auch das Zusammenarbeiten
zwischen Marken und Designern oder Prominenten und
Influencern sind in der Streetwear-Szene sehr beliebt.
Diese „Kooperationen“ können dazu beitragen, dass die
Marken eine breitere Zielgruppe erreichen. Sie können ihre Produkte einem neuen Publikum präsentieren. In der
Modebranche sind Kooperationen zu einem wichtigen
Bestandteil der Marketingstrategie geworden, um abermals das Interesse der Kunden zu verstärken und auch um neue Zielgruppen zu erreichen, so hat sich das „Influencer-
Marketing“ gebildet.30 Durch das Einsetzen von Influencern können Marken ihre Produkte nicht nur einem breiteren
Publikum präsentieren, sondern auch das Vertrauen und die Loyalität der Anhänger des Influencers gewinnen.31 Durch die „Personalisierung“ von Produkten oder Dienstleistungen können Marken ebenfalls einzigartige Erfahrungen für
Konsumenten schaffen und sie dazu ermutigen, das
Produkt zu kaufen, da es genau ihren Bedürfnissen und
Vorlieben entspricht.32
Alicia Kühl stellt in ihrem Buch „Modenschauen. Die Behauptung des Neuen in der Mode“ ebenfalls viele Faktoren und Strategien vor, die aufzeigen , was hinter der Produktion einer Fashionshow steht. So sind es oft die immateriellen Dinge, an die sich später erinnert wird:
Sinneserfahrungen und Raumerfahrungen. Inszenierungsstrategien, die oft schon einige Wochen oder Monate im Vorfeld einer Modenschau häppchenweise in den sozialen Medien propagiert werden, sollen die Endkonsumenten auf diese Weise langsam, eher unbewusst, an das Leitthema der Show hingeführt werden. Ebenso spielt heutzutage die Zeit nach der Show eine wichtige Rolle, um die gezeigte
Kollektion erfolgreich an die Konsumenten zu bringen, sie zu
binden und wiederum an die nächste Kollektion heran zu führen.33 Kühl beschreibt in ihrem Buch, das geladene
Gäste für die Modenschauen, extrem wichtig sind. Das
sogenannte Modespezialistentum, bestehend aus Bloggern, Journalisten, Einkäufern und Prominenten, die allesamt
Einfluss auf potenzielle Endverbraucher ausüben sollen: Sie bestimmen, ob die gezeigte Kollektion ein Erfolg wird.34 Kühl
beendet ihr Buch mit der Aussage, sich nicht vorstellen zu
können, dass Labels mit Modenschauen ohne Publikum
vor Ort, erfolgreich eine Kollektion vermarkten könne. Da die
leibliche Anwesenheit bei einer Modenschau nicht durch
Modefilme ersetzt werden könne, ebenso wenig wie durch
eine Live-Übertragung dieser. Eine geschlossene Gruppe von physisch anwesenden Zuschauern kann die Exklusivität
und Einmaligkeit garantieren. Sie bestätigen die Atmosphäre und sinnlichen Eindrücke und garantieren gezielte
Aufmerksamkeit. Strategien des Produktmarketings zur
Personalisierung der Kleidung, welche als Zukunftsweisend
für Modenschauen gilt, können beispielsweise nicht ohne Zuschauer durchgeführt werden.35
Diana Weis untersucht in ihrem Buch „Modebilder“ die
Veränderungen, die die Modenschauen durch die Verlagerung ins Internet erfahren haben. Die Autorin stellt fest, dass die Mode-Industrie nicht nur ihr Zielpublikum geändert hat, sondern auch ihre Aufführungs-Konventionen. Sie führt die Trendforscherin Li Edelkoort an, welche kritisiert, dass
insbesondere die Nutzung von Smartphones sich auf die Aufmerksamkeit des Publikums während der Shows
auswirkt. Sie geht ebenfalls auf das Buch der Modetheoretikerin Alicia Kühl ein und stellt fest, dass die Übertragung von Modenschauen im Internet nicht nur zu einem Verlust der „Aura“ geführt hat. Sonden gezeigte Entwürfe sich
zunehmend auf das neue Medienformat ausrichten. Das Gezeigte muss möglichst plakativ und catchy sein um auf dem kleinen Bildschirm der Smartphones sofort ins Auge zu springen und eine erkennbare Markenbotschaft vermitteln zu können.36 Ein Trend der auch im Styling (Textabschnitt AUSSENWAHRNEHMUNG IST ALLES) wahrzunehmen ist.
Auch die Verwendung von Datenanalyse und Verbrauchertrends hat sich in der Modeindustrie in den letzten Jahren zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um das Design, die Produktion und den Vertrieb von Kleidung zu optimieren.
Ein Beispiel dafür ist die Verwendung von Datenanalyse in der Modellierung und Vorhersage von Verbrauchertrends.
Modehäuser können durch die Analyse von Verkaufsdaten und Social-Media-Plattformen wie Instagram und Pinterest Trends erkennen und darauf reagieren. So können sie die Produktion von Kleidungsstücken und Accessoires an die Vorlieben der Verbraucher anpassen und ihr Angebot
gezielter gestalten.37 Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung von Technologien wie der künstlichen Intelligenz (KI) und des maschinellen Lernens. Diese Technologien ermöglichen es Modehäusern, die Kundenbedürfnisse besser zu verstehen, indem sie Kaufverhalten, Präferenzen und
Vorlieben analysieren. Auf dieser Basis können sie personalisierte Empfehlungen und Angebote machen, die die
Kundenzufriedenheit und -bindung steigern.38 Zudem nutzen viele Modehäuser auch digitale Technologien, um die Effizienz ihrer Produktion und Lieferketten zu verbessern. Durch Datenanalyse können sie den Bedarf an bestimmten Kleidungsstücken oder Materialien besser vorhersagen, was zu einer Reduzierung von Überproduktion und Abfall führt.39
Insgesamt lässt sich sagen, dass Datenanalyse und
Verbrauchertrends in der Modeindustrie immer wichtiger werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben und die Kundenzufriedenheit zu erhöhen. Es gibt jedoch Diskussionen
darüber, ob die Verwendung von Datenanalyse und
Verbrauchertrends in der Modeindustrie zu einem Verlust an Kreativität führen kann. Einige Kritiker befürchten, dass Designer sich zu sehr auf vorhersagbare Trends und
Verkaufsdaten verlassen und dadurch innovative, originelle Designs vernachlässigen könnten. Allerdings gibt es auch die gegenteilige Ansicht, dass die Verwendung von
Datenanalyse und Verbrauchertrends die Kreativität
fördern kann: Indem Designer ein tieferes Verständnis für die Bedürfnisse und Präferenzen ihrer Kunden entwickeln,
können sie gezielter und erfolgreicher neue Ideen
umsetzen. Die Verwendung von Strategien führt aber nicht zwangsläufig zu einem Verlust an Kreativität, sondern hängt von der Art und Weise ab, wie sie eingesetzt werden. Durch eine bewusste und gezielte Nutzung von Datenanalyse in
Kombination mit kreativem Denken können Modehäuser versuchen, ihr Alleinstellungsmerkmal zu bewahren und dennoch auf die Bedürfnisse ihrer Kunden einzugehen.40
Gleichzeitig kann das Einsetzen von diesen Mechanismen dazu führen, dass Konsumenten ein starkes Verlangen nach bestimmten Produkten entwickeln, insbesondere wenn
diese als exklusiv oder trendig wahrgenommen werden. Dies führt wiederum zu einer Steigerung des Absatzmarktes.
Die Ent-Mystifizierung
Laut einer Schätzung von Statista wurden im Jahr 2021 täglich etwa 1,6 Milliarden Fotos und Videos auf Instagram hochgeladen.41 Auf Facebook werden laut derselben
Quelle täglich etwa 350 Millionen Fotos hochgeladen,
während auf Snapchat täglich etwa 5 Milliarden Snaps (Fotos und Videos) erstellt werden.42 Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass dies nur Schätzungen sind und die
tatsächliche Anzahl der täglich hochgeladenen Bilder in
sozialen Medien wahrscheinlich viel höher ist, da es auch andere Plattformen gibt, auf denen täglich Millionen von
Bildern hochgeladen werden. Aus einer Analyse der
Influencer-Marketing-Plattform InfluencerDB geht hervor, dass Influencer allein auf Instagram im Jahr 2021 etwa 7 Millionen gesponserte Beiträge pro Monat veröffentlichten, von denen viele modebezogen waren.43
Im nicht Digitalen Zeitalter wurden Modebilder von
Modeakteuren bestehend aus Modeschöpfern, Stylisten,
und Modejournalisten und Fotografen kontrolliert. Mode wurde als etwas Luxuriöses dargestellt, an dem nur wenige
teilhaben konnten. Die Digitalisierung, insbesondere durch soziale Medien und Smartphone-Fotografie, hat zum
Beispiel das Feld der Modefotografie für Laien geöffnet und die Anzahl der verfügbaren Modebilder drastisch erhöht. Dies hat zu einer neuen Form der Öffentlichkeit geführt, die höhere Anforderungen an die Alltagsmode stellt. Und
veranlasst junge Menschen dazu, Karrieren als Influencer und Modeblogger anzustreben. Diese Entwicklung wird
jedoch von Vielen in der Modeindustrie kritisiert, die
befürchten, dass die Flut von dilettantischen Modebildern im Netz die Bedeutung der Mode negativ verändert. So wir Mode als relevante Kulturäußerung und auch das nötige ernst zu nehmende Handwerk in der globalen Wahrnehmung diskreditiert. Fraglich, ob die Modeindustrie an diesen veränderten Bedingungen stirbt, durch die sie an Relevanz gewonnen hat, oder ob dies nur die Unkenrufe einer
Branche sind, die die Kreativität einer medial versierten
Jugend fürchtet. Die Rolle der Mode in der digitalen
Bildkultur kann als neue Phase der Kulturgeschichte betrachten werden. So beschreibt es Diana Weis in ihrem Buch „Modebilder“.44
Zu Beginn meiner Recherche war ich davon überzeugt, dass ich in diesem Abschnitt Fotos anführen würde, die meine Beobachtung von einer Veränderung der Sehgewohnheiten, ausgelöst durch soziale Medien, unterstreichen. Es Beschäftigte mich, welche Inhalte der Modefotografie mich aktuell angesprochen haben. Es gibt viele aufstrebende Modefotografen, die an neuen und aufregenden
Ansätzen arbeiten, sei es in Bezug auf Techniken, Ästhetik oder Konzepten. Modefotografie ist nicht nur auf Ästhetik
beschränkt, sondern kann auch soziale und kulturelle
Botschaften transportieren, indem sie sich mit Themen wie Identität, Rassismus und Geschlechterrollen auseinandersetzt und diese reflektiert. Dies trägt zur Vielfalt und
Relevanz der Modefotografie bei. Auf diese Weise erhalten Kleidungsstücke eine tiefere Bedeutung und werden zu „Mode“. Durch die intensive Auseinandersetzung mit den in meiner Arbeit angesprochenen Themen habe ich davon abstand genommen, da ich davon überzeugt bin, dass diese Fotos zwar wichtig für eine Veränderung im Umgang mit Mode waren, ich aber nun auf der Suche nach etwas
anderem bin. Viele Fotos wurden überwiegend dafür
hergestellt, Likes zu kreieren und Follower zu gewinnen. Der Hype um diese Bilder wird also von Usern geschaffen, die regelmäßig das Internet nutzen und ein Teil der Community sind. Daher füge ich sie (nur) in einem weiteren Dokument an. Lange habe ich auch darüber nachgedacht in diesem
Abschnitt die Geschichte der Modefotografie genauer zu untersuchen und Fotografen anzuführen, die den Weg der Modefotografie beeinflusst und geebnet haben.
Modefotografie und die Macht der Medien sind ein zu
großes Thema, um dies in meiner Arbeit gerecht behandeln zu können. Dennoch möchte ich Fotografen die mich
beeinflusst und meinen Blick geschult haben erwähnen (sie sind am Ende des Dokumentes zu finden).
Mir geht es um die „Ent-Mystifizierung“, von der ich
überzeugt war, dass Fotografie sie leisten könnte. Mit der
Ent-Mystifizierung meinte ich zunächst eine Enttarnung von
allen Mitteln die üblicherweise in der klassischen Modefotografie eingesetzt werden, um Kleidung auf ästhetische und oft geheimnisvolle Weise darstellen zu können und sie zu „Mode“ zu erheben. Im Prozess kam ich zu dem Fazit, dass die Ent-Mystifizierung eine weitere Strategie ist, um den
globalen Markt rund um die Modeindustrie am Laufen
halten zu können. Anhand dieser Strategie wird die
eigentliche Mystik zwar entlarvt aber erhält dadurch
gleichermaßen eine neue, die Definition von Mode hat sich nicht verändert, sondern nur ihre Darstellung. Dem
potenziellen Käufer wird nun also auch die Maschinerie
„Behind the Scenes“ gezeigt. Oder es wird auf die komplexe
Strategie verzichtet, mit dem Ergebnis, dass die Darstellung
simplifiziert wird.
Ich frage mich, was es braucht, um einen Schritt weiter zu gehen: Müssen wir und von den Strategien rund um die
„Mystik“ trennen und das Wagnis eingehen, dass Kleidung nicht zu „Mode“ wird?
Können wir einen komplett anderen Umgang mit Mode
finden?
Noch ein Pullover
Als Mensch, der sich innerhalb der Modewelt bewegt sehe ich mich einerseits in der Rolle des Endkonsumenten, der ab und zu den tiefen Wunsch verspürt ein Kleidungsstück
unbedingt besitzen zu müssen. Gleichzeitig sehe ich mich aber auch in der Rolle des Modefotografen, der die Aufgabe hat, ein Kleidungsstück abzulichten und es dafür inszenieren zu müssen. Und ich sehe mich auch in der Rolle des
Modedesigners, der seine Aussage mit Hilfe von Kleidung in die Welt tragen möchte beziehungsweise darüber nachdenkt, ob das Entwerfen und Verkaufen von Kleidung das eigene Überleben sichern kann. In jeder dieser „Rollen“ sind Entscheidungen zu treffe, entstehen Verantwortlichkeiten, Chancen, Unsicherheiten und Druck: Das erzeugt eine
Dissonanz, die mich auf der Suche nach meiner Positionierung innerhalb des Systems fordert.
Drei Rollenentwürfe:
In der Rolle des Konsumenten verspüre ich
gerade den Mangel an einem grauen Kapuzen-Pullover. Nicht nur, weil er mir ein Gefühl von Zugehörigkeit, Geborgenheit, Bequemlichkeit und Schutz geben kann, sondern mich auch an eine vergangene Zeit und an einen bestimmten Menschen erinnert. Gleichzeitig gäbe er mir das Gefühl, dass es eine Zukunft gibt: Wo werde ich ihn tragen, wen werde ich treffen, wenn ich ihn anhabe. Eine Zuversicht, die mich erfüllt — der nächste Tag wird kommen, denn der Pullover dafür ist schon entworfen. Wenn ich mich anziehe, dann weiß ich: Was auch immer passiert, ich werde es in diesem Pullover erleben können und dabei Lässigkeit ausstrahlen.
In der Rolle des Modefotografen geht es mir aktuell darum, ein möglichst authentisches Bild von dem Pullover zu erzeugen. Ich sehe mich in der Verantwortung, Sehgewohnheiten mitbestimmen zu können und diese zu verändern. Weg von der perfekten Illusion hin zur alltäglichen
Realität. Wenn ich eine Kamera in die Hand nehme, habe ich die Möglichkeit eine Gesichte zu erzählen. Dabei habe ich
aktuell kein Interesse durch Strategien ein Bild zu erzeugen, das in Sozialen Medien vermutlich sehr gut funktionieren würde. Es geht mir momentan nicht darum, etwas verkaufen zu müssen. Ich will kein Bild für einen hoffentlich erfolgreichen Instagram Post erzeugen müssen, sondern ein Bild, mit dem ich mich ausdrücken und meine Sicht auf die Welt zeigen kann. Dies muss nicht unbedingt widersprüchlich sein, dennoch fühlt es sich für mich gerade so an. Aktuell bin ich aber auch noch nicht darauf angewiesen, erfolgreiche Fotos zur Vermarktung von Produkten erzeugen zu müssen, die wiederum meine Existenz sichern könnten.
In der Rolle des Modedesigners arbeite ich
momentan daran, wieder einen Hoody aus meiner Bachelor-
Kollektion weiter zu entwickeln. Was macht ihn für mich zu DEM Pullover und nicht bloß irgendeinem? Eine Frage, die ich mir im Designprozess immer wieder stelle und meinen
Anspruch an mich selbst formt. Zur Zeit der Entwicklung meiner Bachelor-Kollektion ging es mir darum, einen
bestimmten Pullover, den ich zuvor an Hailey Bieber (auf
Instagram hat sie mehr als 38 Millionen Follower und nutzt diese Plattform oft, um ihre Outfits und ihre Arbeit als Model und Moderatorin zu präsentieren. So hat sie sich selbst als Stilikone etabliert.) gesehen hatte, zu interpretieren. Damals habe ich mir die Frage gestellt, wann ein Kleidungsstück als „neu“ gilt. „War der Hoody neu als Bieber ihn getragen hat, oder hat er auch eine Daseinsberechtigung wenn er, in der schnelllebigen Modewelt, ein paar Saisons später in leicht veränderter Form wieder auftaucht?“ Mit dem Wiederaufnehmen des Entwurfs und der Weiterentwicklung dessen geht es mir nun viel mehr darum einen Pullover zu entwickeln der nicht wieder „auftauchen“ muss, sondern
„überlebt“. Im besten Fall kann ich mit meinem Entwurf eine Aussage, über die Gesellschaft treffen.
Weltweit wurden 2019 etwa 92 Millionen Tonnen an Textilien produziert.45 Diese Erhebung betrifft die Produktion von
Textilien insgesamt und nicht spezifisch nur von Kleidungsstücken. Dennoch gibt die Zahl Auskunft darüber, dass es notwendig ist, nachhaltige und ethische Praktiken in der
Modeindustrie zu fördern, um endlich die Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschen zu minimieren. Der Erfolg oder Misserfolg eines Modeunternehmens hängt davon ab, wie gut die „Bedürfnisse“ der Konsumenten gedeckt werden können. Der Kauf von Kleidung basiert oft auf psychologischen, sozialen und finanziellen Faktoren, die dem Endverbraucher im Vorfeld nicht bewusst sind.46 Kleidung ist nicht nur ein Lebensgefühl, sondern auch identitätsbildend,
gerade für Menschen wie mich, die innerhalb der Modeindustrie arbeiten. Die Bekleidungs- und Textilindustrie schafft 2 Milliarden Arbeitsplätze weltweit in Kreation,
Produktion, Distribution und Handel.47 Die Modeindustrie ist eine der größten und am schnellsten wachsenden Branchen der Weltwirtschaft. Allerdings hat die steigende Produktion von Textilien auch eine massive Umweltbelastung zur Folge, da sie mit erheblichen Mengen an Treibhausgasemissionen, Energie- und Wasserverbrauch, Landnutzung und Abfallproduktion verbunden ist. Die Modeindustrie ist auch dafür bekannt, Arbeitsbedingungen und Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten zu haben. Sie spielt oft mit Realität und Fiktion. Es scheint fast notwendig, sich selbst als Designer „hypen“ zu müssen, um ernst genommen zu werden. Die Grenzen zwischen Medien, Unterhaltung und Geschäftlichem verschwimmen und heben sich letztendlich auf. Künstler nutzen Auftritte, um Produkte an ein globales Publikum zu verkaufen, während Luxusmarken
einflussreiche Creative Director einstellen, um ihre Marke
zu festigen und dem Ziel der Marktdominanz näher zu
kommen. Der Fokus liegt nicht mehr auf dem Design oder der Kleidung selbst, sondern auf dem Umsatz und der
kulturellen Relevanz.
Die kürzliche Ernennung von Pharrell Williams als Creative Director von Louis Vuitton Men‘s Wear kann als brillanter Schachzug angesehen werden, der beweist, dass sich die Modeindustrie zusammen mit ihren Verbrauchern
verändert, während die Denkweisen rund um diese Titel, Teamstrukturen und ihre Verbindung zur traditionellen
Ausbildung immer noch starr oder elitär bleiben. Der
Abstand zwischen den Rollen des Modedesigners und des kreativen Direktors wird immer größer, was bedeutet, dass wir unsere Karriereplanung überdenken sollten, wenn wir darauf hoffen, der nächste Star-Creative Director zu werden. Hierarchische Strukturen innerhalb der Industrie führen dazu, dass nur wenige Menschen Zugang ins System finden. Veränderung muss jedoch nicht bedeuten, dass alle Aspekte, Kenntnisse und Bräuche rigoros verworfen werden müssen. Stattdessen kann Innovation als Werkzeug zur Erhaltung genutzt werden. Meiner Meinung nach brauchen wir eine Balance zwischen Innovation und Konservatismus und ausreichend Zeit, um reflektieren zu können, wo Veränderungen tatsächlich notwendig und vorteilhaft sind. Alternative Geschäftsstrukturen, die auf offener Kommunikation und flachen Hierarchien basieren, scheinen da eine mögliche Antwort zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass Designer eine formale Ausbildung und Verständnis für Stoffe, Passform und technischen Fähigkeiten erlernt haben sollte, da hinter der „Mystifizierung“ immer auch substanzielle (Hand-) Arbeit steckt. Die Arbeit eines Designers basiert meiner Meinung nach auf der Kombination von Kreativität, Humor, Integrität und einem Gespür für aktuelle Trends.
All dieses Wissen über die Modebranche lässt mich mit der Frage zurück, wie ich mich guten Gewissens beruflich
einbringen kann. Natürlich kann ich Gründe wie Kreative
Freiheit, Selbstverwirklichung, Soziale Verantwortung,
Innovation und Nachhaltigkeit sowie die Möglichkeit nach Vielfalt und Inklusion anführen, wenn es darum geht, mich selbstständig machen zu wollen. Ich sehe Chancen, mit der sich die Modeindustrie erneuern kann und muss. Dennoch bleibt mir der Zweifel, ob die bloße Zuversicht langfristig reicht um Herausforderungen und Risiken zu überwinden? Ich verspüre eine Dissonanz zwischen künstlerischer
Freiheit und finanzieller Stabilität. Sie fühlt sich an wie ein Kampf, den ich in der Zukunft austragen werden muss. Ob ich meiner inneren Stimme und dem Wunsch folgen werde, mich als selbstständiger Designer ausdrücken zu können, bleibt abzuwarten. Vielleicht wird es mir ja tatsächlich
irgendwann gelingen, DEN Pullover zu gestalten (und das jede Saison aufs neue)? Außer Frage bleibt für mich jedoch, dass ich meinen Weg innerhalb dieser Branche gehen
werde. Es ist vielmehr meine Möglichkeit, meine Talente und Kreativität auszuleben und meine eigene Visionen weiterzuentwickeln und zu verwirklichen. Außerdem denke ich, das
Modedesigner nicht nur die Möglichkeit haben Materielles zu „gestallten“, sondern auch soziale Verantwortung tragen. Der „Pullover“ als Tool intellektueller Kommunikation.
Zuletzt bleibt mir nur zu sagen: „Mode“ ohne „Mystik“ ist
Bekleidung.